In einer Sammlung orientalischer Handschriftenreste, die von Einbänden abgelöst wurden, entdeckte Hermann Degering 1931 in der Preußischen Staatsbibliothek Berlin die zwei Pergamentdoppelblätter mit Liedern Walthers von der Vogelweide, die in der Forschung die Sigle O erhalten haben. Die insgesamt 44 Strophen (davon 8 unvollständig) ohne Verfassernennung werden in anderen Handschriften Walther von der Vogelweide zugeschrieben und gehören zu 11 Minneliedern (Cormeau 26, 85, 35, 29, 88, 42, 94, 21, 106, 44, 37). Fünf Strophen (Cormeau 106), die im Hausbuch Michaels de Leone zu Walthers Œuvre zählen, werden in der Manessischen Liederhandschrift Walther von Mezze, vier davon in der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift dem Truchsess von St. Gallen, Ulrich von Singenberg, zugeschrieben. Die Anbindung an den Umkreis der Jenaer Liederhandschrift ist nicht unmittelbar gegeben: die beiden Doppelblätter sind früher zu datieren, bieten keine Melodieüberlieferung und stellen insgesamt mit der einfachen Kursive und spärlichen blauen Verzierungen einen eher kunst- und anspruchslosen Überlieferungsträger dar. Die Strophengliederung erinnert von der Systematik, nicht von der konkreten Ausführung her, an die der Jenaer Liederhandschrift. Hinsichtlich der Schreibsprache erweist sich das Fragment als niederdeutsche Abschrift einer wohl ostmitteldeutsch/thüringischen Vorlage. Insofern bezeugt sie mittelbar das Vorhandensein lyrischer Überlieferung für einen regionalen Raum, in dem die Jenaer Liederhandschrift entstanden ist. Als Folge des Zweiten Weltkriegs befindet sich das Fragment heute als Teil der so genannten "Berlinka" in der Krakauer Biblioteka Jagiellońska.